697 – Gnade statt Steine

697 – Gnade statt Steine

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Hörerinnen und Hörer,

Menschen lieben es manchmal, Fehler anderer zu finden – und möglichst laut darüber zu reden. Heute heißen diese „Marktplätze“ oft Social Media. Früher reichte dafür der Marktplatz im Dorf. In Johannes 8 sehen wir, wie so eine öffentliche Anklage damals aussah.

„Jesus aber ging an den Ölberg. Und früh am Morgen kam er wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie.“
Johannes 8,1–2

Jesus war nicht in einer abgeschotteten Welt unterwegs. Er war mitten bei den Menschen, öffentlich ansprechbar – das machte ihn angreifbar, aber auch nahbar. Heute würden wir sagen: Er hatte keine VIP-Lounge, sondern saß mitten in der Menge.

„Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen war, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist ergriffen auf frischer Tat beim Ehebruch.“
Johannes 8,3–4

Das ist der Moment, den wir heute oft „Skandalisierung“ nennen. Ein Mensch wird aus der Anonymität gerissen, mitten in den Fokus gestellt, und alle können zuschauen. Damals wie heute steckt dahinter nicht nur Gerechtigkeitssinn, sondern oft auch Schadenfreude oder Selbstrechtfertigung: „Seht her, wir sind besser als sie.“

„Mose aber hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen; was sagst du?“
Johannes 8,5

Hier wird es brenzlig. Jesus soll in eine Falle gelockt werden: Entweder er widerspricht dem Gesetz – dann ist er „falsch“ – oder er stimmt zu und verliert sein Profil als barmherziger Lehrer. Heute kennen wir ähnliche Falle-Fragen in Interviews, Kommentaren oder Diskussionen.

„Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“
Johannes 8,6

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie, Sora, prompted by ChatGPT
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie, Sora, prompted by ChatGPT

Keine spontane Gegenpolemik, kein lautes „Ihr habt Unrecht!“. Stattdessen Stille, ein körperliches Zeichen: Er entzieht sich dem Tempo der Empörungswelle. Das ist so unendlich weise – und so selten in unserer Zeit.

„Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“
Johannes 8,7

Das ist keine Verharmlosung der Tat, sondern eine radikale Erinnerung: Wir alle stehen nicht makellos da. In einer Welt, die auf Likes und moralische Überlegenheit setzt, entlarvt Jesus unser Bedürfnis, besser dazustehen, indem wir andere runterdrücken.

„Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.“
Johannes 8,9

Menge löst sich unter Nachdenken auf, Sora, prompted by ChatGPT
Menge löst sich unter Nachdenken auf, Sora, prompted by ChatGPT

Wie wohltuend wäre es, wenn in einem digitalen Shitstorm die Stimmen nach und nach verstummen, weil jeder sich erinnert: Ich bin selbst nicht ohne Fehl. Jesus schenkt hier genau diese Unterbrechung.

„Da richtete sich Jesus auf und fragte sie: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr!“
Johannes 8,10–11

Keine billige Entschuldigung, keine Toleranz um jeden Preis – aber zuerst Barmherzigkeit. Erst Rettung, dann Veränderung. Das ist die Reihenfolge des Evangeliums. Vielleicht wäre das auch unsere beste Reihenfolge: erst zuhören, dann helfen, dann korrigieren.

Jesus gibt der Frau ihre Würde zurück, bevor er sie zu einem neuen Weg einlädt. Das ist so zeitlos, dass es in jede Lebenssituation passt: auf der Arbeit, in der Schule, in der Familie.


Herr Jesus Christus, hilf uns, nicht mit Steinen zu werfen – weder mit Worten noch mit Blicken.

Gib uns den Mut, innezuhalten, wenn wir urteilen wollen, und die Kraft, barmherzig zu handeln.

Lass uns zuerst sehen, wo wir selbst Veränderung brauchen.

Amen!


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