
Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
es gibt Bibelstellen, die uns direkt ins Herz treffen – nicht mit lautem Donner, sondern mit einem stillen Flüstern, das lange nachhallt. Jesaja 50 ist eine dieser Stellen. Besonders die Verse 4 bis 9 haben es in sich: Worte eines Menschen, der durch Leid hindurchgeht, der verspottet, geprügelt, angespuckt wird – und trotzdem sagt: „Ich weiß, dass ich nicht beschämt werde.“ Worte, die tief in das Geheimnis der Berufung führen. Worte, die Mut machen – gerade, wenn alles andere versagt.
Beginnen wir mit dem vielleicht schönsten Satz dieses Kapitels:
„Gott der HERR hat mir die Zunge gegeben wie denen, die gelernt haben, dass ich wisse mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie die Jünger.“
Jesaja 50,4
Wer so spricht, ist nicht selbstbewusst im üblichen Sinne. Diese Worte kommen nicht aus der Pose eines Überlegenen, sondern aus der Schule des Hörens. „Er weckt mir das Ohr“ – eine merkwürdige Formulierung. Nicht: Ich höre einfach, sondern: Gott muss mein Ohr wach machen. Wer je frühmorgens mit zu vielen Gedanken im Kopf aufgewacht ist, kennt dieses Gefühl. Das Ohr ist da, aber taub. Die Welt redet, aber nichts dringt durch.
Jesaja beschreibt hier nicht einfach einen besonders frommen Menschen. Er beschreibt einen Diener, der gelernt hat, sich jeden Tag neu auf Gottes Stimme einzulassen. Das kostet – denn es folgt eine dramatische Wendung:
„Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften; mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“
Jesaja 50,6

Wer auf Gott hört, wird nicht immer bejubelt. Manchmal ist das Ohr, das Gott öffnet, gleichzeitig das Tor zu Leid. Wer mit offenen Ohren durch diese Welt geht, bleibt nicht unberührt. Der Gottesknecht weiß, wofür er leidet – und er bleibt dabei. Ohne Bitterkeit. Ohne Rache. Das ist kein stiller Masochismus, sondern eine Form der Stärke, die man nicht spielen kann. Das ist Haltung. Innere Festigkeit, geboren aus täglicher Gottesbegegnung.
Und dann diese unfassbare Zuversicht:
„Aber Gott der HERR hilft mir; darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.“
Jesaja 50,7
Diese Bibelstelle kennt keine Ironie. Keine Flucht in „Wird schon irgendwie“. Der Gottesknecht bleibt auf Kurs – nicht, weil alles gut ist, sondern weil Gott treu ist. Er schaut nicht auf das, was ihm angetan wird, sondern auf den, der ihn beauftragt hat. Das Bild vom „Kieselstein“ ist genial: Kein massiver Fels, kein Stahl – sondern etwas, das jeder kennt. Klein. Hart. Klar. Wer je einen Kiesel in der Hand hatte, weiß: Der hat viel erlebt. Wasser. Druck. Zeit. Und: Er rollt. Immer weiter.
Man kann hier leicht Parallelen zu Jesus ziehen – und das tun auch die Evangelien. In der Leidensgeschichte Jesu tauchen genau diese Bilder wieder auf: das Schweigen, das Aushalten, das Vertrauen. Im Matthäus-Evangelium wird Jesus geschlagen und angespuckt (Matthäus 26,67), doch er schweigt. Auch dort kein Zurückschlagen. Kein Fluchen. Nur Würde. Nur Vertrauen.

Und zugleich geht es auch um uns. Wir sind nicht nur Zuschauer dieser alten Verse. Wir sind eingeladen, selbst solche Menschen zu werden, deren Ohr Gott weckt. Menschen, die müde Worte trösten. Menschen, die Unrecht nicht mit neuem Unrecht vergelten. Menschen, die nicht beschämt werden, weil sie sich nicht von Menschenmeinungen leiten lassen.

Ich erinnere mich an ein Beispiel aus der Zeit des Nationalsozialismus: Der junge Pfarrer Julius von Jan hielt 1938 in Oberlenningen eine Bußtags-Predigt, wenige Tage nach der Reichspogromnacht. In einer Zeit, in der fast alle schwiegen, sagte er öffentlich: „Wir haben die Quittung bekommen auf den großen Abfall von Gott und Christus, auf das organisierte Antichristentum. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört, Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben […] wurden ins Konzentrationslager geworfen, bloß weil sie einer andern Rasse angehörten!“ (Quelle: jochenteuffel.com)
Er wurde dafür schwer verprügelt und verfolgt. Und doch blieb er dabei. Kein Rückzug, kein Bedauern – weil sein Ohr offen war. Weil er wusste, dass Schweigen nicht treu gewesen wäre. Er war ein moderner Gottesknecht, ein Hörer in dunkler Zeit.
Vielleicht fragst du dich, was das für deinen Alltag bedeutet. Muss ich jetzt den Rücken hinhalten? Muss ich mich leiden lassen? Nein. Aber: Du bist eingeladen, für Gott morgens das Ohr zu öffnen. Jeden Tag neu. Und dann zu hören, wem du heute etwas Gutes sagen kannst. Wer die Müden tröstet, braucht kein großes Redetalent. Nur ein offenes Ohr.
Du bist nicht allein. Und du wirst nicht beschämt. Vielleicht spürst du gerade jetzt, dass dieser Text wie für dich geschrieben ist. Dann lies ihn morgen früh noch einmal. Und bitte Gott, dein Ohr zu wecken. Er wird es tun.
Gott, wecke unser Ohr.
Lass uns hören, was du uns sagen willst.
Und gib uns den Mut, für das einzustehen, was richtig ist – auch wenn es weh tut.
Stärke uns mit deiner Nähe, wenn wir angegriffen werden.
Und mach unser Herz fest in deiner Treue.
Amen!
Pingback: 684 – Stanley Rother: Glaube, der bleibt – KI-Andacht.de