Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
was für ein Thema am 11. November – dem Martinstag, an dem wir an einen römischen Soldaten denken, der zum Christen wurde und sich dem Kriegsdienst verweigerte. Gestern veröffentlichte die evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift, die das Gegenteil tut: Sie überdenkt den Pazifismus, der viele Christen jahrzehntelang geprägt hat. Das provoziert. Das fordert heraus. Aber vielleicht ist genau das nötig.
Denn der Blick in die Welt ist brutal. Kriege lodern – in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan. Und es scheint, als würden diplomatische Worte gegen Raketen und Drohnen kaum noch Gewicht haben. In diesem Spannungsfeld stellt sich die Evangelische Kirche in Deutschland, die EKD, nun neu auf: Sie bleibt beim Ziel des »Gerechten Friedens«, öffnet sich aber in ethischen Grenzbereichen der Realität der Gewalt. Selbst die atomare Abschreckung wird nicht mehr völlig ausgeschlossen.
Ist das ein Verrat am Evangelium – oder ein bitter notwendiger Realismus?
Hören wir zunächst eine grundlegende Wahrheit aus dem Munde Jesu selbst:
»Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.«
Matthäus 5,9
Diese Seligpreisung ist keine Strategie – sie ist eine Lebenshaltung. Jesus sagt nicht: »Selig sind die, die den Frieden sichern«, oder gar »die, die den Krieg verhindern«. Sondern: die den Frieden stiften. Das ist ein aktives Tun. Es braucht Mut, Hoffnung und auch Einsatz. Und ja – es kann bedeuten, sich gegen Unrecht zu stellen.
Die neue Friedensdenkschrift sagt: Wer Menschen in akuter Gefahr nicht schützt, macht sich mitschuldig. Das ist keine billige Floskel. Es ist ein ethisches Dilemma. Und die Kirche spricht es erstmals offen aus: Gewalt kann Schuld sein – aber auch das Wegsehen.
Schon in der frühen Kirche gab es Debatten darüber, ob Christen Soldaten sein dürfen. Später legitimierte die »Lehre vom gerechten Krieg« bewaffneten Einsatz – unter strengen Bedingungen. Doch das Ideal des Friedens blieb stets bestehen. Es ging nie darum, Gewalt zu feiern. Sondern sie – wenn überhaupt – als äußerstes Mittel zu dulden.

Ein eindrucksvolles biblisches Beispiel für diesen Zwiespalt ist die Geschichte von Petrus im Garten Gethsemane:
»Da sprach Jesus zu ihm: Steck dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen.«
Matthäus 26,52
Jesus selbst lehnt das gewaltsame Eingreifen ab – sogar zu seiner eigenen Verteidigung. Das ist radikal. Aber er sagt damit nicht, dass sich niemand jemals verteidigen dürfe. Sondern: Der Weg der Gewalt führt in die Spirale der Gewalt. Und genau hier liegt die Spannung, mit der wir heute leben – und die die EKD benennt.

Was aber bedeutet es, als Christin oder Christ in dieser Welt zu stehen – zwischen der Vision des Friedens und der Realität des Krieges?
Vielleicht hilft uns das Wort von Paulus im Römerbrief weiter. welches wir schon oft in den KI-Andachten hörten:
»Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.«
Römer 12,18
»Soviel an euch liegt« – Paulus erkennt damit an, dass nicht immer alles in unserer Hand liegt. Und trotzdem sind wir verantwortlich für unseren Teil. Für das, was wir sagen. Für das, was wir ermöglichen. Für das, was wir dulden.
Die EKD benennt in ihrer Denkschrift ein Spannungsfeld – und das ist unbequem. Denn sie verabschiedet sich von einfachen Antworten. Pazifismus wird als persönliche Gewissensentscheidung gewürdigt, aber nicht mehr als allgemeingültige Lehre. Manche finden das feige. Andere endlich ehrlich.
Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirch in Deutschland, sprach bei der Vorstellung der Denkschrift in Dresden von einem tiefgreifenden Dilemma: »Gewalt anzuwenden ist nicht möglich, ohne schuldig zu werden. Aber auch Menschen oder Staaten machen sich schuldig, die Gewalt zulassen und Menschen nicht vor ihr schützen.« Und weiter sagte sie: »Es bleibt ein Dilemma, das sich nicht auflösen lässt.«
Das ist ungewohnt. Viele hätten lieber klare Ansagen. Schwarz oder Weiß. Richtig oder Falsch. Doch vielleicht ist es genau diese ehrliche Spannung, in der der Glaube heute seine Kraft entfaltet: Zwischen Nächstenliebe und Verantwortung. Zwischen Hoffnung und politischer Notwendigkeit. Zwischen dem Wunsch, niemandem zu schaden – und der Pflicht, nicht einfach zuzusehen.
Denn eines darf niemals passieren: Dass wir uns an den Krieg gewöhnen.
Wir dürfen nicht kalt werden. Nicht resignieren. Nicht anfangen, Abschreckung als Normalität zu sehen. Auch wenn wir sie politisch vielleicht nicht verhindern können – geistlich dürfen wir sie niemals bejahen. Denn unser Ziel bleibt: Schalom. Der Frieden, in dem Menschen aufatmen können.

Und so bleibt auch dieser Martinstag eine Einladung: Nicht zu schweigen. Nicht wegzusehen. Sondern den eigenen Platz im Ringen um Frieden einzunehmen – ob mit Worten, mit Gebet oder mit aktiver Solidarität für die, die leiden.
Gott, du Herr des Friedens.
Du siehst, wie unsere Welt brennt.
Du hörst das Weinen der Kinder in der Nacht.
Du kennst die Angst in den Herzen der Mütter.
Du spürst die Ohnmacht derer, die schweigen müssen.
Wir rufen: Herr, erbarme dich!
Mach uns zu Menschen, die den Frieden lieben.
Zu Menschen, die nicht weglaufen vor dem Leid.
Mach uns mutig, wenn andere zögern.
Mach uns wach, wenn uns Müdigkeit lähmt.
Mach uns sanft, wo Hass sich breitmacht.
Und mach uns laut, wenn Unrecht geschieht.
Gib uns Worte, die nicht verletzen.
Gib uns Hände, die nicht zuschlagen.
Gib uns Herzen, die nicht hart werden.
Gib uns Hoffnung, die sich nicht kaufen lässt.
Denn du bist größer als unsere Angst.
Dein Licht ist stärker als das Dunkel.
Dein Friede geht tiefer als jedes Schweigen.
Dein Reich kommt – und wir dürfen dabei sein.
Lass uns bauen an dieser Zukunft.
Lass uns singen von deiner Gerechtigkeit.
Lass uns tanzen im Vertrauen auf dich.
Und selbst wenn wir straucheln – heb uns wieder auf.
Führ uns durch das Chaos dieser Zeit.
Führ uns durch Zweifel und Schuld.
Führ uns zu dir – und zueinander.
Denn du bist unser Gott.
Unser Licht.
Unser Friede.
Unser Zuhause.
Amen!
