Liebe Leserinnen und Leser, liebe Zuhörende,
es gibt Zeiten, in denen wir das Gefühl haben, dass Gott schweigt. Wir beten, wir rufen, wir flehen – und doch scheint keine Antwort zu kommen. Genau dieses Gefühl beschreibt Psalm 44. Ein Lied des Volkes Israel, das sich an frühere Wunder erinnert, aber gleichzeitig fragt: „Wo bist du jetzt, Gott?“
Hören wir einige Verse dieses bewegenden Psalms:
„Gott, mit unseren Ohren haben wir’s gehört, / unsre Väter haben’s uns erzählt, / was du getan hast zu ihren Zeiten, / vor alters. / Du hast mit deiner Hand die Heiden vertrieben, / aber sie hast du eingesetzt; / Völker hast du geschlagen, / aber sie hast du ausgebreitet.“
Psalm 44,2-3
Der Anfang des Psalms erinnert an die großen Taten Gottes. Israel kennt die Geschichten von der Befreiung aus Ägypten, von den Wundern in der Wüste und der Eroberung des Landes. Sie wissen: Gott hat gehandelt!
Doch dann folgt die bittere Realität:
„Aber nun hast du uns verstoßen und zu Schanden gemacht / und ziehst nicht aus mit unserm Heer. / Du lässt uns fliehen vor unserm Feind, / dass uns berauben, die uns hassen.“
Psalm 44,10-11
Was für ein Bruch! Erst die Erinnerungen an Gottes Macht – und dann diese tiefe Klage. Die Menschen fühlen sich verlassen. Sie erleben Niederlagen und fragen sich: Warum? Wo bist du, Gott?
Und dann der wohl stärkste Abschnitt des Psalms:
„Erwecke dich! Warum schläfst du, Herr? / Wache auf und verstoße uns nicht für immer! / Warum verbirgst du dein Angesicht / und vergisst unser Elend und unsere Drangsal?“
Psalm 44,24-25
Es ist ein Schrei aus tiefster Not. Kein schöner, glattgebügelter Glaube, sondern rohe Ehrlichkeit. Die Beter dieses Psalms sind verzweifelt, aber sie geben ihren Glauben nicht auf. Sie rufen Gott an, sie fordern ihn heraus. Und das Erstaunliche: Dieser Schrei steht in der Bibel. Das zeigt uns, dass auch unser Zweifel, unser Schmerz, unser Unverständnis bei Gott Platz haben.

Vielleicht kennst du das Gefühl: Du hast erlebt, wie Gott in der Vergangenheit gewirkt hat – vielleicht in deinem eigenen Leben oder in dem anderer. Aber jetzt scheint er schweigend zu sein. Deine Gebete verhallen, deine Kämpfe sind hart, und du fragst dich: „Gott, schläfst du?“
Die Bibel gibt darauf keine schnelle Antwort. Kein „Alles wird gut“ oder „Reiß dich zusammen“. Aber was sie tut, ist noch viel wichtiger: Sie zeigt, dass wir mit unserer Klage zu Gott kommen dürfen. Und dass selbst dann, wenn wir ihn nicht verstehen, er doch unser Gott bleibt.
Die letzten Worte des Psalms sind ein Gebet voller Hoffnung:
„Steh auf, hilf uns und erlöse uns / um deiner Güte willen!“
Psalm 44,27
Hier liegt die Antwort: Nicht unsere Leistung zählt, sondern Gottes Güte. Selbst wenn wir ihn nicht sehen oder spüren – er ist da. Und wenn die Nacht noch so dunkel ist, dürfen wir hoffen: Er wird handeln, zur rechten Zeit.
Vielleicht erlebst du gerade eine solche Zeit der Stille Gottes. Vielleicht fühlt sich dein Glaube wie eine Wüste an. Dann darfst du diesen Psalm beten. Ehrlich, ohne Beschönigung. Und du darfst wissen: Auch Jesus hat solche Worte gebetet. Am Kreuz rief er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46) Er kennt diesen Schmerz. Und genau deshalb kann er uns auch darin begegnen.
Lasst uns gemeinsam beten:
Herr, manchmal scheint es, als würdest du schweigen. Wir verstehen nicht, warum du nicht eingreifst. Aber wir halten uns an dir fest. Du bist unser Gott, auch wenn wir dich nicht sehen. Erwecke dich, Herr, und hilf uns um deiner Güte willen.
In Jesu Namen, Amen!