Liebe Leserinnen und Hörer, liebe Hörer und Leser,
am 9. November erinnern wir an ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte: die sogenannten Novemberpogrome 1938, oft „Reichskristallnacht“ genannt. Es war ein organisierter Gewaltausbruch gegen jüdische Menschen – mit Zustimmung und Anstiftung durch die damalige Regierung: der rechtsextremen NSDAP unter Adolf Hitler.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten Synagogen in ganz Deutschland. Jüdische Geschäfte wurden zerstört, Wohnungen verwüstet, Menschen erniedrigt, verschleppt, ermordet. Es war keine spontane „Wut der Straße“, sondern ein staatlich geplanter Angriff auf Mitbürger.

Ein Beispiel: In Leipzig stürmten uniformierte Trupps die große Synagoge am Gottschedplatz. Die Feuerwehr kam zwar – aber nicht, um zu löschen, sondern nur, um umliegende Gebäude zu schützen. Zeitzeugen berichten von stiller Zustimmung der Passanten, von Angst, aber auch von Gleichgültigkeit.
Und das Erschütternde: Auch viele Christinnen und Christen blieben stumm.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“
Matthäus 5,10
„Wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; wenn er dürstet, gib ihm zu trinken; denn so sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt.“
Römer 12,20
Diese Sätze fordern uns auf, nicht nur zu erinnern – sondern zu handeln.
Heute – 87 Jahre später – führen in Wahlumfragen wieder Parteien, die von Landesverfassungsschutzämtern in Teilen als rechtsextremistisch eingestuft werden. Wieder wird Schuld verteilt – pauschal, schrill, vereinfachend: an „die Ausländer“, an Geflüchtete, an politische Gegner. Wieder wird Misstrauen geschürt, werden Ängste benutzt. Und wieder werden Menschen zu Sündenböcken gemacht.

Wie 1938? Nein. Aber: Es beginnt immer leise. In den Worten. In der Verachtung. In dem „Man wird ja wohl noch sagen dürfen …“. In der Verrohung der Sprache. Im Wegschauen, wenn Parolen gebrüllt werden.
Und es kommt nicht nur von einer Seite: Antisemitismus zeigt sich heute vielfältig. Neben rechtsextremer Hetze sehen wir auch Judenhass aus Teilen der muslimischen Community – teils getragen von jungen Menschen mit Fluchterfahrung, die antisemitische Feindbilder aus Herkunftsländern mitgebracht haben. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde das in aller Deutlichkeit sichtbar: Jüdische Einrichtungen in Deutschland mussten verstärkt geschützt werden. Jüdisches Leben wurde wieder zur Zielscheibe – mitten unter uns.
Und plötzlich brennen wieder Flüchtlingsunterkünfte. Oder jüdische Schulen brauchen Polizeischutz. Menschen müssen Angst haben, weil sie anders glauben, anders aussehen oder schlicht: weil sie jüdisch sind. Das darf kein Normalzustand werden.
„Was hast du mit deinem Bruder getan?“
1. Mose 4,10
Es ist die uralte Frage aus der Geschichte von Kain und Abel. Sie trifft auch uns. Denn wer zusieht und schweigt, macht sich mitschuldig.
Deshalb: Heute ist ein Tag des Erinnerns – und ein Tag des Ernstmachens. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit offenem Herzen. Nicht als moralische Oberlehrer, sondern als glaubwürdige Menschen.
Wir dürfen nicht vergessen, wie leicht Demokratien untergraben werden können, wenn Hass normal wird. Und wie gefährlich es ist, wenn Menschen nicht mehr als Ebenbilder Gottes gesehen werden – sondern als „die Anderen“, „die Fremden“, „die Problemgruppe“.

Christlicher Glaube kennt keine Gruppenverurteilung. Wer auf Jesus hört, weiß:
„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25,40
Wir erinnern heute nicht, weil wir in Schuld versinken sollen. Sondern damit wir Verantwortung übernehmen. Damit wir andere Wege gehen. Damit wir dem Gift des Hasses etwas entgegensetzen. Etwas, das heilt.
Gott, du Freund des Lebens,
wir erinnern uns an das Leid, das Menschen anderen angetan haben.
Wir sehen in die Asche zerstörter Synagogen,
in das Schweigen derer, die hätten sprechen können.
Wir bitten dich um Vergebung für jedes Mitlaufen, jedes Wegschauen, jedes Schweigen.
Für uns. Für unsere Städte. Für unsere Kirchen.
Hilf uns, die Erinnerung zu bewahren – ohne Bitterkeit, aber mit Klarheit.
Lehre uns, was es heißt, jüdisches Leben zu achten, zu schützen und zu feiern.
Bewahre uns vor neuen Formen alten Hasses.
Wo Worte verletzen, lehre uns heilsames Sprechen.
Wo Unrecht laut wird, gib uns den Mut, nicht zu schweigen.
Wo Angst herrscht, lass uns Raum für Vertrauen schaffen.
Wo Menschen verachtet werden, erinnere uns daran, dass jeder dein Ebenbild trägt.
Gib uns eine klare Stimme und ein weiches Herz.
Erneuere unsere Hoffnung, damit wir nicht müde werden, das Gute zu tun.
Dein Licht leuchte in uns, wenn Dunkelheit uns zu überwältigen droht.
Und dein Frieden erfülle unsere Straßen, unsere Schulen, unsere Herzen.
Für Juden. Für Muslime. Für Christen. Für Atheisten. Für alle.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Auch durch uns.
Amen!
