Guten Morgen euch allen – liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser!
Wer die Andacht gestern gehört hat, erinnert sich vielleicht noch: Ein Ohr, das Gott hören will, wird geweckt. Jeden Morgen. So stand es bei Jesaja. Und so war es bei Julius von Jan – einem Mann, der 1938 den Mut hatte, nach der Reichspogromnacht laut von der Kanzel zu sagen, was nicht gesagt werden durfte. Er hatte gehört – und gehandelt. Heute geht diese Geschichte weiter. Ein paar Jahrzehnte später, auf einem anderen Kontinent, aber mit ähnlicher Entschiedenheit.
Stanley Rother war ein ganz normaler Mann aus Oklahoma. Einer, den sie fast durch die Prüfungen im Priesterseminar fallen ließen, weil Latein nicht sein Ding war. Aber Spanisch hat er später fließend gelernt. Und Tz’utujil – eine der Sprachen der Maya in Guatemala – auch. Weil er wollte, dass die Menschen das Evangelium hören. In ihrer Sprache. Und in ihrer Welt.
Er war dort, weil er nicht anders konnte. Als Missionar. Als Diener. Als Mitmensch. In den Bergen von Santiago Atitlán, wo Armut, Hunger und Angst herrschten – und das Evangelium plötzlich mehr war als eine Sonntagspredigt. Es war Brot. Medizin. Trost. Und: Gefahr.
Es war die Zeit der Militärdiktatur in Guatemala. Wer sich auf die Seite der Armen stellte, geriet ins Visier. Stanley wurde bedroht. Freunde verschwanden. Manche tauchten nie wieder auf. Und schließlich sagten auch seine Vorgesetzten: Komm zurück. Es ist zu gefährlich.
Er kam zurück. Für ein paar Monate. Dann kehrte er zurück – nach Santiago Atitlán. Weil er spürte, dass seine Leute ihn brauchten. Und weil er gesagt hatte: „Der Hirte verlässt seine Herde nicht, wenn der Wolf kommt.“
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1981 kamen die Männer. Maskiert. Bewaffnet. Sie suchten ihn. Er wurde ermordet in seinem Zimmer. Der erste nordamerikanische Märtyrer in Lateinamerika. Und einer, der mit offener Bibel und offenen Händen gestorben ist.

Was treibt einen Menschen dazu, zu bleiben, wenn alle Fluchtwege offenstehen? Was lässt jemanden leise und mutig sein, wenn Schrecken und Gewalt herrschen? Was gibt einem Menschen die Kraft, nicht sich selbst zu retten – sondern bei den anderen zu bleiben?
Vielleicht ist die Antwort dieselbe wie gestern: Gott hat ihm das Ohr geöffnet. Und das Herz. Und dann ging kein anderer Weg mehr.
In der Bibel steht:
„Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“
Matthäus 16,25
Und an anderer Stelle:
„Größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“
Johannes 15,13
Stanley Rother hat sein Leben verloren – und dabei vielleicht mehr gefunden als viele von uns sich vorstellen können. Frieden. Treue. Wahrheit. Und eine Stimme, die sagt: „Gut gemacht, du treuer Knecht.“
In gewisser Weise ist Stanley Rother ein Bruder von Julius von Jan. Zwei Männer aus zwei Welten, die eins gemeinsam haben: Sie wussten, dass der Ruf Gottes manchmal mitten in der Nacht kommt. Und dass man ihm besser nicht ausweicht.

Stanley schrieb in einem seiner Briefe: „Die Hirten dürfen nicht fliehen. Die Märtyrer sterben nicht umsonst.“ Und in Santiago Atitlán sagt man heute noch: „Padre Aplas – unser Priester – lebt.“
Nein, nicht in irgendwelchen Idealen. Sondern im Glauben der Menschen, die durch ihn Gott kennengelernt haben. Er lebt in ihren Liedern, ihren Gebeten, ihren Erinnerungen. Und in der Frage an uns: Wofür würdest du bleiben, wenn es unbequem wird?
Und vielleicht beginnt genau da ein neuer Tag. Wenn das Ohr erwacht. Und das Herz antwortet.
Gott, unser Vater, wir danken dir für das Zeugnis derer, die dir treu bleiben bis zum Ende.
Für Stanley Rother und für Julius von Jan.
Für alle, die auf dein Wort hören und nicht schweigen.
Stärke auch uns – im Kleinen wie im Großen – den Mut zum Bleiben, zum Dienen, zum Lieben.
Schenke uns ein Ohr, das hört, und ein Herz, das folgt.
Amen!
