Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
heute ist ein besonderer Tag – und das gleich auf mehreren Ebenen. Vor genau 35 Jahren, am 22. August 1990, fasste die frei gewählte Volkskammer der DDR einen Beschluss, der Geschichte schrieb: Mit deutlicher Mehrheit stimmten die Abgeordneten für den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des damals geltenden Grundgesetzes. Es war ein demokratischer Akt, ein selbstbestimmter Schritt, der von Hoffnung getragen war – und von der Sehnsucht nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und einem Leben ohne ideologische Bevormundung.
Dass dieser Moment bis heute nicht den Platz im kollektiven Gedächtnis hat, den er verdient, ist schade. Denn es war eben keine „Übernahme“, kein bloßes „Anschlussmanöver“. Es war ein gewähltes Parlament, das im Sinne seiner Wähler entschied – frei, mit Mehrheit, im Bewusstsein des Gewichts dieses Schrittes. Und genau darum soll es heute gehen: um Selbstbestimmung, Verantwortung – und um das Vertrauen in das, was Menschen aus ihrem Glauben heraus gestalten können.

Die Bibel kennt viele Momente, in denen Menschen oder Völker sich neu ausrichten – manchmal auf Gott hin, manchmal leider auch von ihm weg. Ein besonders sprechendes Beispiel ist Josuas Abschiedsrede an das Volk Israel. Er stellt dem Volk eine klare Entscheidung vor, die nicht nur politisch, sondern auch geistlich ist:
„Wählt euch heute, wem ihr dienen wollt! […] Ich aber und mein Haus wollen dem HERRN dienen.“
Josua 24,15
Was für ein Satz. Keine politische Rede, sondern ein Bekenntnis. Ein Angebot. Keine Zwangsmaßnahme, sondern ein Ruf zur Entscheidung. Josua überlässt dem Volk die Wahl. Aber er verschweigt nicht, wo er steht. Dieser Moment der Entscheidung hat Kraft. Er atmet Freiheit. Er ruft zur Verantwortung.
Und genau das war auch 1990 spürbar: Die Entscheidung der Volkskammer war nicht bloß ein juristischer Akt, sondern ein Ausdruck von Verantwortung. Sie war getragen vom Wählerwillen – den Wahlen im März 1990, bei denen eine große Mehrheit für Parteien stimmte, die eine rasche deutsche Einheit anstrebten. Und sie war getragen von einer Hoffnung: auf ein geeintes Land, das nicht mehr durch Mauern, Stacheldraht und politische Willkür getrennt ist.
Dabei war der Schritt nicht unumstritten. Einige plädierten für einen längeren Prozess, für mehr Zeit zum „Zusammenwachsen“. Doch die Mehrheit entschied sich für Klarheit. Für den Beitritt zum 3. Oktober – einem damals noch unscheinbaren Datum, das erst durch diesen Beschluss historische Bedeutung gewann: der Tag, an dem zwei Staaten zu einem wurden. Freiwillig. Verhandelt. Friedlich.
Was uns das geistlich sagen kann? Vielleicht dies: Freiheit braucht Entscheidung. Und Verantwortung. Es reicht nicht, Freiheit nur zu wollen – man muss sie auch gestalten. Und manchmal auch wagen.
Der Apostel Paulus formuliert es so:
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Galater 5,1
Diese Freiheit ist kein Freifahrtschein für Beliebigkeit. Sie ist eine Einladung, das eigene Leben in Gottes Sinn zu gestalten. Freiheit bedeutet nicht: „Ich kann tun, was ich will“, sondern: „Ich darf entscheiden, wem ich vertraue – und wie ich mit anderen umgehe.“
Ein freies Parlament in Ost-Berlin hat das 1990 vorgemacht. Nicht perfekt, nicht ohne Reibung – aber mit Mut, Klarheit und einem demokratischen Fundament. Das ist ein Erbe, das nicht nur historisch, sondern auch geistlich wichtig ist.
Denn auch wir stehen immer wieder vor Entscheidungen. Wie gehen wir mit unserer Freiheit um? Wie gestalten wir unser Land, unsere Stadt, unsere Gemeinde? Wollen wir gestalten oder nur zuschauen? Wollen wir Verantwortung übernehmen oder lieber auf andere zeigen?
Gott nimmt uns ernst. Das ist vielleicht eine der schönsten Wahrheiten des christlichen Glaubens. Er zwingt niemanden. Er lädt ein. Und er traut uns zu, dass wir selbstständig entscheiden – und Verantwortung übernehmen.

Vielleicht erinnert uns dieser 22. August daran: Demokratie ist nichts Abstraktes. Sie lebt davon, dass Menschen wie du und ich sie leben. Sie lebt davon, dass wir nicht nur unsere Rechte wahrnehmen, sondern auch unsere Pflicht, uns einzubringen. Und dass wir uns – im Vertrauen auf Gottes Geist – nicht wegducken, sondern aufstehen und mitentscheiden, wo es darauf ankommt.
Guter Gott, du hast uns zur Freiheit berufen – und zur Verantwortung.
Schenk uns Klarheit, wenn wir entscheiden müssen.
Mut, wenn wir vor Widerständen stehen. Und Liebe, wenn wir anderen begegnen.
Hilf uns, in deiner Wahrheit zu leben und deine Gerechtigkeit zu suchen – in kleinen und großen Dingen, in Kirche, Politik und Alltag.
Amen!
