Liebe Leserinnen und Leser, liebe Hörerinnen und Hörer,
am 6. September 2025 begehen wir den 80. Jahrestag der Verlegung des sowjetischen Speziallagers Nr. 7 nach Sachsenhausen. Was nüchtern klingt, ist in Wahrheit eine tiefe Wunde der Geschichte: Tausende von Menschen wurden 1945 nach dem Ende des Nazi-Terrors erneut inhaftiert – diesmal durch die sowjetische Besatzungsmacht. Zwischen 1945 und 1950 starben dort etwa 12.000 Menschen an Hunger, Kälte und Krankheit. Die Mauern, die einst für das Grauen des KZ Sachsenhausen standen, wurden nicht abgerissen, sondern einfach weitergenutzt. Es ist ein bedrückendes Kapitel, aber eines, das erinnert werden muss.
Erinnern – das ist mehr als bloßes Zurückdenken. In der Bibel ist Erinnern eine geistliche Handlung. Gott selbst erinnert. Und er ruft auch uns dazu auf.
„Nur hüte dich und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen weiche dein Leben lang. Und du sollst es deinen Kindern und Kindeskindern kundtun.“
5. Mose 4,9
Gott sagt hier nicht nur: Denk zurück. Sondern: Vergiss nicht mit dem Herzen. Mach es lebendig. Gib es weiter. Erinnern wird damit zu einer Aufgabe, zu einer geistlichen Haltung. Und genau diese Haltung brauchen wir, wenn wir auf das Speziallager in Sachsenhausen blicken.

Die Menschen, die dort eingesperrt waren – darunter viele Jugendliche, Lehrer, Pfarrer, Soldaten, Frauen, die nichts getan hatten außer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein – sie sind Teil unserer Geschichte. Ihre Namen, ihre Geschichten, ihr Schweigen, ihre Schreie: All das gehört zu dem Land, in dem wir heute leben.
Erinnerung darf nicht bequem sein. Und sie darf nicht still sein. Sie ist unbequem. Sie ruft auf. Und sie konfrontiert uns mit Fragen: Wo schweigen wir, wo wir sprechen sollten? Wo schauen wir weg, wo wir sehen sollten?

Jesus selbst hat sich immer wieder an die Seite derer gestellt, die übersehen, vergessen oder zum Schweigen gebracht wurden. Seine Worte aus der Bergpredigt sind wie ein Leuchtturm in dunkler Erinnerung:
„Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“
Matthäus 5,4
Diese „Seligpreisung“ ist kein frommer Trostspruch. Sie ist ein Versprechen. Und auch eine Aufgabe: Denn getröstet werden kann nur, wer gesehen wird. Wer gehört wird. Und manchmal: wer beim Namen genannt wird.
In der Ausstellung „frauenHAFT“ in Sachsenhausen werden zum Gedenktag zwölf Frauenschicksale erzählt. Eine von ihnen ist Maria B., 22 Jahre alt bei ihrer Inhaftierung. Ihr Vorwurf: „Kontakt mit einem westlichen Offizier“. Kein Prozess, keine Verteidigung. Drei Jahre Lager, Unterernährung, Krankheit. Sie überlebte – schwieg jahrzehntelang – und sprach erst kurz vor ihrem Tod über das Erlebte. Diese Geschichte ist eine von Tausenden. Aber sie ist nicht irgendeine. Sie ist eine Einladung, genau hinzusehen.
Jesus sagt einmal über das Gericht:
„Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Matthäus 25,40
Wenn wir das ernst nehmen, dann wird jeder vergessene Mensch zum Christus, der uns anschaut. Jede Geschichte, die wir nicht hören wollten, wird zum Evangelium, das uns aufrüttelt. Und jede Form des Erinnerns wird zum Gottesdienst.
Das heißt nicht, dass wir alles erklären oder gar entschuldigen müssen. Aber es heißt: Wir dürfen nicht wegsehen. Wir dürfen nicht schweigen. Und wir dürfen das Erinnern nicht delegieren – an Museen, Gedenkstätten oder Politik. Es ist unsere Aufgabe. Geistlich. Menschlich. Und zutiefst christlich.
Vielleicht ist heute ein Tag, an dem du einfach mal still wirst. Oder laut. Ein Tag, an dem du eine Geschichte liest. Eine Kerze anzündest. Oder mit jemandem sprichst, der zu schweigen gelernt hat.
Gott ist auf der Seite derer, die sich erinnern – und die Hoffnung daraus schöpfen. Denn es ist kein Erinnern ohne Zukunft. Die Bibel sagt:
„Er heilt, die zerbrochenen Herzens sind, und verbindet ihre Wunden.“
Psalm 147,3
Und das ist am Ende vielleicht die tröstlichste Botschaft: Dass aus den Trümmern der Geschichte nicht nur Mahnmale, sondern auch Menschen hervorgehen – mit offenen Herzen, mit heilenden Worten, mit göttlichem Trost.

Gott, wir bringen dir das Erinnern.
Die Bilder, die Stimmen, die Tränen.
Lass uns nicht vergessen, was geschehen ist.
Und mach uns bereit, Verantwortung zu tragen – im Kleinen, im Großen.
Schenk uns ein waches Herz und ein offenes Ohr.
Für die Menschen von damals. Für die Menschen von heute. Für dein Wort.
Amen!
