773 – Eine Stunde Leben

773 – Eine Stunde Leben

Liebe Leserinnen und Hörer, liebe Mitmenschen,

in der Nacht von heute auf morgen wird die Uhr umgestellt. Eine Stunde zurück. Und egal, ob man Nachteule ist oder Frühaufsteherin – für viele fühlt sich diese Stunde wie ein Geschenk an. Eine Stunde mehr. Einfach so. Was machen wir eigentlich mit geschenkter Zeit?

Die Andacht vom Frühjahr zur Zeitumstellung trug den Titel: „Ein Weckruf für unsere Seelen“. Heute gehen wir in eine andere Richtung. Es geht nicht ums Aufwachen – sondern ums Dableiben. Ums Innehalten. Darum, wie es ist, wenn das Leben plötzlich eine Lücke lässt. Raum gibt.

Im Buch Prediger klingt das so nüchtern wie wunderschön:

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“
Prediger 3,1

Der Text zählt dann auf: Geborenwerden und Sterben, Weinen und Lachen, Klage und Tanz, Krieg und Frieden. Alles hat seine Stunde. Und diese Aufzählung lässt spüren: Es geht nicht darum, alles gleichzeitig zu machen. Sondern das Eine zur rechten Zeit. Und das Andere eben auch – aber später.

Mann im nebligen Park, Sora, prompted by ChatGPT
Mann im nebligen Park, Sora, prompted by ChatGPT

Zeit ist kein Besitz. Sie ist Bewegung. Sie fließt durch uns. Und manchmal dürfen wir sie halten wie ein Glas Wasser in der Hand.

Jesus selbst war oft unterwegs. Aber er war nie gehetzt. Er ließ sich unterbrechen. Er nahm sich Zeit für Menschen, die „eigentlich“ nicht im Zeitplan standen. Vielleicht, weil er wusste, was Mose damals im Psalm schrieb:

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90,12

Diese Zeile klingt erstmal düster. Aber sie ist hell, wenn man genauer hinhört. Mose betet nicht: „Lass uns viele Jahre haben.“ Sondern: „Lass uns begreifen, wie wertvoll jeder Tag ist.“ Ausgerechnet die Begrenztheit macht die Zeit bedeutsam.

Vielleicht ist genau das das Geschenk der Zeitumstellung: Eine Stunde, die nicht vollgepackt ist. Die nicht schon verplant war. Sondern leer. Und offen. Für Stille. Oder ein Gespräch. Für Schlaf. Oder für einen Spaziergang. Es ist nicht wichtig, was wir damit machen. Sondern wie wir dabei sind.

In einem Interview erzählte eine Palliativpflegerin, dass Sterbende fast nie von ihren Erfolgen sprechen. Sondern von Momenten. Von der Bank im Garten. Von der Tasse Kaffee mit der Tochter. Von einem Lächeln. Eine Stunde kann ein Leben tragen.

Vielleicht ist das die Einladung: Morgen früh, wenn die Uhren anders stehen, nicht gleich weiterzurennen. Sondern zu merken: Ich atme. Ich lebe. Jetzt.

Vorlesestündchen, Sora, prompted by ChatGPT
Vorlesestündchen, Sora, prompted by ChatGPT

Gott, du gibst uns Zeit, nicht um sie zu füllen, sondern um in ihr zu leben.

Lehre uns, die geschenkte Stunde nicht zu übersehen.

Und lehre uns, sie nicht zu fürchten.

Lass uns still werden.

Und dankbar.

Und wach.

Amen.


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