674 – Freiheit über den Wolken?

674 – Freiheit über den Wolken?

Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,

heute treffen sich hoch über der Welt – genauer gesagt auf der Zugspitze – europäische Innenminister zum Migrationsgipfel. Ein Ort mit Aussicht. Und ein Ort, an dem Grenzen aufeinandertreffen: Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und die Schweiz – sie alle liegen in Sichtweite. Von dort oben wirkt Europa greifbar. Kein Stacheldraht, keine Schlagbäume. Nur Berge, Täler, Gipfel – und die Freiheit, zu reisen.

Kameradschaft beim Abstieg, Sora, prompted by ChatGPT
Kameradschaft beim Abstieg, Sora, prompted by ChatGPT

Es ist fast paradox: Während die Mächtigen Europas auf 2.962 Metern über dem Meer über Abschottung und Abschiebung diskutieren, stehen sie gleichzeitig mitten in einem Symbol grenzenloser Bewegung. Wer heute über die Alpen fährt, merkt oft kaum, in welchem Land er gerade ist. Früher war das anders. Grenzen waren sichtbar. Spürbar. Und manchmal tödlich.

Ein Satz aus der Bibel fällt mir dazu ein. Paulus schreibt ihn in seinem Brief an die Galater:

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“
Galater 3,28

Das ist ein Satz mit Sprengkraft. Ein Satz gegen Ausgrenzung, gegen Klassendenken, gegen das Etikettieren von Menschen. Damals wie heute. Paulus schreibt ihn an eine junge Gemeinde, in der sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Herkünften, Hautfarben und Geschichten treffen. Für ihn ist klar: Die Trennung, die wir Menschen so gern vornehmen, existiert in Gottes Augen nicht. Oder zumindest nicht so, wie wir sie oft aufbauen.

Natürlich leben wir nicht im Paradies. Und natürlich braucht es Ordnung, Regeln, auch Grenzen. Aber manchmal, wenn wir über Migration sprechen, geht uns etwas Entscheidendes verloren: der Blick für den Menschen. Nicht der „Fall“, nicht der „Zuzug“, nicht die „Zahl“, sondern der Mensch mit einer Geschichte, mit Träumen, mit Angst – wie du und ich.

Jesus selbst war auf der Flucht. Gleich nach seiner Geburt musste er mit Maria und Josef nach Ägypten fliehen, weil Herodes ihn töten wollte. Ein berühmter Satz aus dem Matthäusevangelium erinnert daran:

„Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten!“
Matthäus 2,13

Flucht nach Ägypten, Sora, prompted by ChatGPT
Flucht nach Ägypten, Sora, prompted by ChatGPT

Flucht ist kein neues Phänomen. Sie ist Teil der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Und Gott stellt sich nicht auf die Seite der Herrschenden, sondern auf die Seite derer, die auf der Flucht sind. Die keine Stimme haben. Die nicht eingeladen werden zu Gipfeln, aber deren Leben von deren Entscheidungen abhängen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte aus dem Jahr 2015, als Hunderttausende Menschen über die Balkanroute nach Mitteleuropa kamen. An einem kleinen Grenzübergang zwischen Slowenien und Österreich standen Freiwillige aus verschiedenen Ländern, die Essen verteilten, Kleidung, Wasser – und Nähe. Eine Helferin aus Südtirol erzählte später, dass ein junger Mann aus Syrien sie fragte: „Sind Sie Europa?“ Sie lachte und antwortete: „Ich bin nur ich. Aber wenn du willst – ja.“

Das hat mich tief berührt. Denn in diesem kleinen Dialog steckt etwas ganz Großes: Wir können Europa sein. Wir können der Teil sein, der nicht wegschaut. Der nicht wegschiebt. Der nicht kategorisiert. Sondern sieht.

Die Zugspitze ist heute der höchste politische Ort Europas. Aber vielleicht wird dort auch einer daran denken, wie es wäre, wenn Europa nicht nur aus Verträgen bestünde, sondern aus Begegnungen. Wenn Grenzen nicht Mauern, sondern Brücken wären. Wenn wir nicht fragen: „Wie viele kommen?“, sondern: „Was brauchen die Menschen, die da sind?“

Alpenpanorama, Sora, prompted by Michael Voß
Alpenpanorama, Sora, prompted by Michael Voß

Jesus wurde einmal gefragt, wer denn eigentlich sein Nächster sei. Seine Antwort war keine Definition, sondern eine Geschichte. Die vom barmherzigen Samariter. Von einem, der nicht weggeschaut hat, obwohl er es hätte tun können. Und Jesus sagt dazu:

„Geh hin und tu desgleichen!“
Lukas 10,37

Samariter hilft Opfer eines Überfalls, DALL·E, prompted by Michael Voß
Samariter hilft Opfer eines Überfalls, DALL·E, prompted by Michael Voß

Das ist der Auftrag. Und der bleibt. Egal, wie viele Gipfel es noch geben wird. Egal, wie viele Zäune gebaut werden. Und egal, wie hoch wir uns über die Welt erheben – Gottes Blick ist anders. Tiefer. Nahbarer. Menschlicher.


Gott, Du hast keine Grenze gezogen zwischen dir und uns.

Du bist uns nahegekommen. Hast dich klein gemacht. Flüchtling geworden. Fremder geworden.

Gib uns den Mut, mit demselben Herz auf andere zu schauen – egal, woher sie kommen.

Lass uns nicht urteilen, sondern helfen. Nicht wegsehen, sondern hinschauen. Nicht fürchten, sondern handeln.

In deinem Namen.

Amen!


Translate
Consent Management Platform von Real Cookie Banner