Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet – ein Meilenstein für unser Land. Seit 76 Jahren gibt uns diese Verfassung ein starkes Fundament: Freiheit, Würde, Gleichheit, Gerechtigkeit. Doch sind das nur Worte auf Papier? Oder steckt darin etwas, das uns auch geistlich herausfordert?
Der erste Artikel unseres Grundgesetzes beginnt mit einem Satz, der inzwischen fast sprichwörtlich ist:
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Und genau hier wird es spannend für uns als Christinnen und Christen. Denn diese Aussage hat biblische Wurzeln – ob bewusst oder unbewusst, sie nimmt auf, was Gott über uns sagt.
„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“
1. Mose 1,27
Die Menschenwürde ist kein Geschenk eines Staates oder einer Gesellschaft. Sie ist Teil unserer göttlichen Herkunft. Sie ist untrennbar mit unserer Identität verbunden. Niemand – wirklich niemand – ist weniger wert. Weder der Mensch mit Behinderung noch die Geflüchtete, weder der Obdachlose noch der Straftäter. Wer das versteht, der urteilt anders. Und lebt anders.
Spannend ist auch, wie das Grundgesetz selbst beginnt. Noch vor Artikel 1 steht da die Präambel. Dort heißt es:
„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen…“

Diese Formulierung wurde ganz bewusst gewählt. Sie erinnert uns daran, dass die Freiheit, die Demokratie, die Würde nicht aus dem Nichts kommen. Sondern dass sie Verantwortung brauchen – vor den Menschen, ja, aber auch vor Gott. Und das ist bemerkenswert: In einer pluralen Gesellschaft, die Religionsfreiheit garantiert, bleibt Gott als Ursprung von Verantwortung genannt. Kein Zwang – aber ein Angebot zur Orientierung. Und ein Aufruf zur Demut.
Die Freiheit, die unser Grundgesetz garantiert, ist ebenfalls mehr als ein politischer Begriff. In der Bibel geht es immer wieder um Freiheit – aber nicht um eine schrankenlose, sondern um eine, die befreit, um zu dienen.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Galater 5,1
Christliche Freiheit heißt: Ich bin frei, aber nicht für mich allein. Ich bin frei, um dem anderen mit Liebe zu begegnen. Um zu sprechen, wenn andere schweigen. Um zu handeln, wenn andere wegsehen. Es ist eine Freiheit, die Verantwortung kennt – Verantwortung vor Gott und den Menschen.
Und genau hier berühren sich Glaube und Demokratie. Die Demokratie ruft uns auf, mitzuwirken. Nicht zu warten, dass „die da oben“ es richten. Sondern zu tun, was in unserer Kraft steht: wählen, mitreden, widersprechen, zuhören. Und beten.
„So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.“
1. Timotheus 2,1-2
Demokratie braucht Gebet. Nicht weil wir damit Politiker manipulieren könnten – sondern weil wir damit unsere eigene Haltung verändern. Wer für andere betet, kann nicht gleichzeitig verächtlich auf sie herabblicken. Wer für Frieden bittet, muss selbst friedlich sein. Und wer Gott als Richter anerkennt, muss nicht ständig selbst richten.
Ich habe kürzlich von einer älteren Dame gelesen, die seit Jahrzehnten jeden Morgen für den Bundespräsidenten und die Bundesregierung betet – ohne Ausnahme. Sie hat kein Handy, ist kaum online – aber sie lebt Verantwortung, wie sie im Grundgesetz gemeint ist. Und wie sie im Evangelium gelebt wird.

Verantwortung zu übernehmen heißt, nicht alles laufen zu lassen. Es heißt aber auch: nicht zu verbittern. Nicht zynisch zu werden. Und nicht zu vergessen, dass Gott selbst ein Freund der Freiheit ist – aber nicht auf Kosten der Wahrheit.
„Ihr sollt die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“
Johannes 8,32
Wahrheit. Würde. Verantwortung. Freiheit. Diese Worte sind mehr als politische Parolen. Sie sind geistliche Aufgaben. Und wir können sie leben – in unseren Familien, in der Schule, im Betrieb, am Wahltag und im Alltag.
Guter Gott, du hast uns Menschen mit Würde geschaffen, du hast uns Freiheit geschenkt und uns Verantwortung übertragen. Hilf uns, diese Gaben nicht achtlos zu behandeln. Mach uns zu Menschen, die für andere eintreten, die mutig ihre Stimme erheben, die zuhören können und beten – für unser Land, für unsere Nachbarn und für uns selbst.
Amen!