629 – Wenn ein Mensch sich selbst vergisst

629 – Wenn ein Mensch sich selbst vergisst

Liebe Leserinnen und liebe Hörer,

liebe Menschen, die auf der Suche sind nach Sinn, Trost oder vielleicht einfach einem ehrlichen Gedanken zum Tag.

Heute möchte ich mit euch über ein Thema sprechen, das für viele ganz persönlich und schmerzhaft ist – und doch selten offen angesprochen wird: Demenz. Wenn Menschen sich verändern, weil ihr Gedächtnis schwindet. Wenn der Vater seine Tochter nicht mehr erkennt. Wenn die Großmutter plötzlich Dinge sagt, die nie zu ihr gepasst haben. Wenn ein geliebter Mensch sich selbst verliert – was bleibt dann noch?

Die Bibel ist kein medizinisches Fachbuch. Aber sie ist ein Buch über Menschen in all ihrer Zerbrechlichkeit. Und sie ist ein Buch über Gott, der uns in dieser Zerbrechlichkeit nicht loslässt. Vielleicht brauchen wir das gerade hier, wenn wir über Demenz und Würde sprechen.

Im ersten Buch Mose lesen wir:

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.“
1. Mose 1,27

Dieser Satz steht am Anfang. Und er steht über allem, was folgt. Der Mensch ist Ebenbild Gottes. Nicht weil er etwas leistet. Nicht weil er besonders klug ist. Auch nicht, weil er moralisch einwandfrei handelt. Sondern einfach, weil Gott ihn so gemacht hat. Das ist seine Würde – und sie ist nicht an Bedingungen geknüpft.

In unserer Gesellschaft wird diese Aussage allerdings immer wieder untergraben. Da zählt, wer produktiv ist. Wer funktioniert. Wer „noch was bringt“. Und wenn dann jemand beginnt, Namen zu vergessen, sich in der eigenen Wohnung nicht mehr zurechtfindet oder nicht mehr sagen kann, ob er gegessen hat – dann steht schnell die Frage im Raum: Ist das noch ein Leben in Würde?

Ich möchte diese Frage umdrehen: Ist unsere Gesellschaft noch würdig, wenn sie einem Menschen die Würde abspricht, nur weil sein Gedächtnis nicht mehr funktioniert?

Jesus erzählt ein Gleichnis, das wie gemacht ist für solche Fragen. Es geht um einen Hirten, der 100 Schafe hat – und eines davon geht verloren. Was macht der Hirte?

„Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hat und eins unter ihnen sich verirrt, lässt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das verirrte?“
Matthäus 18,12

Jesus sagt: Jeder einzelne ist wichtig. Auch der, der nicht mehr allein heimfindet. Auch der, der sich „verirrt“ hat – im Gedächtnis, in der Persönlichkeit, im Verhalten. Und vielleicht sind Menschen mit Demenz genau das: Verirrte, die wir nicht sich selbst überlassen dürfen. Die wir suchen müssen, auch wenn der Weg schwer ist. Und: deren Würde nicht davon abhängt, ob sie den Weg zurückfinden oder nicht.

Jesus der Hirte, Sora, prompted by ChatGPT
Jesus der Hirte, Sora, prompted by ChatGPT

Martina Rosenberg, eine Journalistin, schilderte in einem viel beachteten Interview mit der Zeitung „Die Welt“ ihre Erfahrungen mit ihrer demenzkranken Mutter. Sie pflegte sie jahrelang zu Hause – bis zur völligen Erschöpfung. Ihre Mutter wurde immer hilfloser, gleichzeitig aber auch verbal verletzender, ein typisches Symptom bei Demenz. Rosenberg sagte: „Meine Mutter beschimpfte mich als Schlampe, riss mir die Brille vom Kopf. Ich dachte oft: Wo ist die Frau hin, die mich großgezogen hat?“ Und doch beschreibt sie auch diese Augenblicke, in denen zwischen allem Schmerz ein stilles Lächeln aufblitzte. Ein Moment, in dem Nähe spürbar wurde – nicht mehr über Worte, sondern über Präsenz. Sie schrieb später darüber in ihrem Buch „Mutter, wann stirbst du endlich?“ – ein provozierender Titel, der ihre tiefen inneren Konflikte auf den Punkt bringt.

Ich finde, das ist ein ehrliches Bild: Pflege zwischen Liebe und Verzweiflung. Und doch zeigt es auch: Die Beziehung reißt nicht ab. Sie verändert sich. Manchmal wird sie leiser, tiefer, fragiler – aber sie bleibt (Quelle: Die Welt – Interview mit Martina Rosenberg).

Ich finde, das ist ein tiefes Bild: Erkennen mit dem Herzen. Und vielleicht auch: Erkannt sein mit dem Herzen. Vielleicht ist das sogar wichtiger als das Wissen, wer jemand „logisch“ ist. Vielleicht geht es nicht um das Gedächtnis, sondern um die Beziehung. Die Liebe, die bleibt.

Der Apostel Paulus schreibt:

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
1. Korinther 13,13

Vater-Sohn-Spaziergang, Sora, prompted by ChatGPT
Vater-Sohn-Spaziergang, Sora, prompted by ChatGPT

Auch wenn der Verstand nachlässt, kann Liebe da sein. Sie braucht keine Worte. Sie erkennt sich im Blick, in der Berührung, im Dasein. Und sie ist das, was uns miteinander verbindet – auch dann, wenn scheinbar alles andere zerbricht.

Wer einen Menschen mit Demenz begleitet, braucht viel Geduld. Und manchmal auch ein dickes Fell. Es ist nicht immer rührend. Es ist oft anstrengend. Und es ist auch erlaubt, sich Hilfe zu holen und nicht alles allein schaffen zu wollen. Aber es ist ein geistlicher Weg. Ein Weg, auf dem man viel über das Leben und die Liebe lernen kann.

Ein Weg, auf dem Gott uns nicht verlässt. Er kennt uns – auch dann noch, wenn wir selbst uns nicht mehr kennen.

In Psalm 139 steht:

„Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.“
Psalm 139,14

Auch wenn die Seele es nicht mehr in Worte fassen kann: Gott erkennt sie. Und das genügt. Er sieht den Menschen – nicht als medizinischen Fall, sondern als sein Kind. Und Kinder Gottes behalten ihre Würde. Immer.

So sieht die KI den Herausgeber dieses Angebots mit 95, Sora, prompted by Michael Voß
So sieht die KI den Herausgeber dieses Angebots mit 95, Sora, prompted by Michael Voß

Gott, wir bitten dich: Für alle, die an Demenz erkrankt sind – schenke ihnen Momente der Klarheit, aber vor allem Geborgenheit in deiner Nähe. Für alle, die sie begleiten – gib Kraft, Mitgefühl und Ruhe. Und für uns alle – lehre uns, was Würde wirklich bedeutet.

Amen!

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