
Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
es gibt Daten, die brennen sich ein. Der 4. Juni 1989 ist so ein Tag. Wer damals alt genug war, erinnert sich womöglich an die Fernsehbilder: Menschenmassen in Peking, der riesige Tian’anmen-Platz voller Hoffnung – und dann Panzer. Soldaten. Blut. Der Traum von Demokratie wurde niedergewalzt von einer Führung, die Angst vor Freiheit hatte. Es war, als wäre der Wille der Jugend unter den Ketten der Panzer zermalmt worden. Und doch: Die Bilder des Mannes, der allein mit zwei Einkaufstüten vor einer Panzerkolonne steht, sind geblieben. Er hatte keine Waffe. Nur Mut. Nur Haltung.
„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
2. Timotheus 1,7
Das Tian’anmen-Massaker ist inzwischen 36 Jahre her – und doch ist es erschreckend aktuell. In einer Zeit, in der weltweit wieder autoritäre Herrscher an Macht gewinnen, in der demokratisch gewählte Staatsoberhäupter sich gegen die Demokratie wenden, brauchen wir Erinnerung. Und eine klare Haltung.
Die Bibel kennt viele Geschichten, in denen Menschen für Gerechtigkeit eintreten – gegen alle Widerstände. Der Prophet Amos sagte:
„Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.“
Amos 5,24
Nicht tröpfeln soll das Recht. Nicht leise vor sich hinplätschern. Sondern strömen – kraftvoll, unaufhaltsam. Wer diesen Anspruch ernst nimmt, kann sich nicht wegducken. Er oder sie muss hinsehen. Auch dann, wenn es unbequem wird. Auch dann, wenn es gefährlich wird.
Und ja: Mut ist gefährlich. Zivilcourage kann einen Job kosten. Oder Freunde. Oder die Freiheit. Im schlimmsten Fall sogar das Leben. Aber: Schweigen ist auch gefährlich. Feigheit schützt vielleicht kurzfristig – aber langfristig zerstört sie das, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Wahrheit. Vertrauen. Gerechtigkeit.
„Richte deinen Mund für den Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“
Sprüche 31,8
Es gibt heute so viele, die keine Stimme haben. In Russland, in Belarus, in China. Aber auch in Demokratien, wo Machtmissbrauch, Ausgrenzung und Unterdrückung längst Einzug gehalten haben. Wer die Wahrheit ausspricht, riskiert viel – und verändert mehr, als er oder sie ahnt.

Lü Jinghua war 1989 eine junge Frau, die sich den Protesten auf dem Tian’anmen-Platz anschloss. Sie wurde zur Sprecherin der Beijing Workers’ Autonomous Federation – einer unabhängigen Arbeiterorganisation, die sich für Demokratie einsetzte. Nach dem Massaker floh sie ins Exil. In einem Interview mit dem „Witness“-Format der BBC schildert sie rückblickend ihre Angst, aber auch ihre Entschlossenheit: „Ich hatte kein Mikrofon, keine Bühne mehr. Aber ich wusste, ich konnte nicht schweigen.“ Ihre Geschichte ist ein Zeugnis für Mut in dunkler Zeit
(diverse Links zu ihr bei Wikipedia)
Christlicher Glaube war nie unpolitisch. Er war auch nie angepasst. Jesus selbst wurde gekreuzigt, weil er den Mut hatte, gegen religiöse und politische Macht aufzustehen. Er stellte sich auf die Seite derer, die nichts galten. Derer, die unterdrückt wurden. Er heilte am Sabbat – obwohl es verboten war. Er sprach mit Ausgestoßenen – obwohl es verpönt war. Er sagte Dinge, die man nicht sagen durfte – und bezahlte mit seinem Leben.
„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.“
Matthäus 5,10

Unsere Aufgabe heute? Hinhören. Wach bleiben. Nicht mitlaufen, wenn Unrecht geschieht. Den Mund aufmachen, wenn andere zum Schweigen gebracht werden. Auch wenn das manchmal bedeutet, unbequem zu sein. Vielleicht sogar einsam. Aber nie allein. Denn der Geist Gottes ist ein Geist der Kraft.
Zivilcourage beginnt nicht auf dem großen Platz. Sie beginnt im Kleinen. Im Klassenzimmer, wenn ein Kind gemobbt wird. Am Arbeitsplatz, wenn jemand benachteiligt wird. In der Familie, wenn Unrecht verschwiegen werden soll. Dort, wo Menschen in Angst leben – da braucht es andere, die ihre Angst teilen. Und überwinden.
Die Proteste am Tian’anmen-Platz wurden blutig niedergeschlagen. Und doch: Sie waren nicht umsonst. Die Sehnsucht nach Freiheit lebt weiter. In den Herzen der Menschen – und in unserem Gedächtnis.
Gott, gib uns den Mut, aufzustehen, wenn andere sich ducken. Gib uns offene Augen für das Unrecht, das geschieht. Und offene Münder, die Wahrheit sprechen. Stärke alle, die heute für Gerechtigkeit kämpfen – ob laut oder leise. Lass uns niemals gleichgültig werden. Lass uns Salz und Licht sein – in deiner Welt.
Amen!