632 – Was wir sehen und was uns verborgen bleibt

632 – Was wir sehen und was uns verborgen bleibt

Liebe Leserinnen und liebe Hörer,

heute ist der 6. Juni – in Deutschland ist das der Sehbehindertentag. Ein Tag, der uns daran erinnern soll, wie unterschiedlich Menschen wahrnehmen – mit ihren Augen, mit ihrem Herzen, mit ihren Erfahrungen. Es ist ein Tag für Barrierefreiheit, für Inklusion, aber auch für mehr Ehrlichkeit im Miteinander. Was heißt es eigentlich, „blind“ zu sein – und was heißt es, „sehen zu können“? Vielleicht sehen wir manchmal weniger, obwohl unsere Augen funktionieren. Und vielleicht sehen andere viel mehr, obwohl sie mit Einschränkungen leben.

Jesus selbst hat über das Sehen oft gesprochen. Er heilte Blinde – körperlich und innerlich. Und gleichzeitig war ihm klar: Das eigentliche Problem ist nicht immer das kaputte Auge, sondern der verschlossene Blick.

„Ein Blinder kann keinen Blinden führen; beide fallen in die Grube.“
Lukas 6,39

Das ist schonungslos ehrlich. Wenn wir Menschen, die selbst nichts (mehr) sehen – oder nur wenig – nicht unterstützen, sondern ihnen noch zusätzliche Hürden in den Weg stellen, werden wir beide scheitern. Der Sehbehindertentag erinnert uns an unsere Verantwortung. Menschen mit Sehbehinderung brauchen keine Mitleidsgesten. Sie brauchen eine Gesellschaft, die sie mitdenkt – beim Busfahren, beim Einkaufen, bei der Berufswahl und im Alltag.

Aber zurück zur Bibel: Jesus fragt immer wieder – wie ein guter Lehrer – nicht nur: „Willst du sehen?“, sondern auch: „Was siehst du?“ Und manchmal sogar: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken in deinem eigenen?“

„Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“
Matthäus 7,3

Dieses Bild hat sich eingebrannt. Denn es zeigt: Man kann mit den Augen sehen – aber das Herz bleibt blind. Und wie oft urteilen wir über andere, ohne wirklich zu sehen, wie sie leben, was sie tragen, wie viel Mut sie aufbringen, Tag für Tag.

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Blinder Skateboardfahrt mit Freund, Sora, prompted by ChatGPT

Eine Geschichte hat mich in diesem Zusammenhang tief bewegt. Ich las von einem sehbehinderten Jugendlichen in Nürnberg, der sich nicht davon abhalten ließ, Skateboard zu fahren – mit einem Blindenstock. Er hatte einen Freund, der mit ihm zusammenfuhr, ihm zurief, wo Gefahren waren, und bei allem dabeiblieb. Die Menschen, die sie sahen, staunten. Einige schüttelten den Kopf. Andere klatschten. Und viele – das wurde berichtet – fingen an, über ihre eigenen Ausreden nachzudenken. Der blinde Skater wurde für viele zum Spiegel.

Gott sieht, wie wir sehen. Und er fragt: Wie geht ihr mit denen um, die anders sehen als ihr? Gebt ihr ihnen Raum? Achtet ihr ihre Perspektive? Oder versucht ihr, ihnen eure Sicht aufzuzwingen?

Im Johannesevangelium steht eine der stärksten Aussagen zum Thema Sehen – und Nicht-Sehen:

„Ich bin in diese Welt gekommen zur Entscheidung: damit die, die nicht sehen, sehend werden und die, die sehen, blind werden.“
Johannes 9,39

Was für ein Satz. Die Welt steht Kopf. Jesus sagt: Es gibt ein Sehen, das blind macht – vor Stolz, Überheblichkeit, Vorurteilen. Und es gibt ein scheinbares Nicht-Sehen, das in Wahrheit von großer Klarheit zeugt – weil Menschen gelernt haben, zu hören, zu fühlen, zu vertrauen. Inklusion ist keine Einbahnstraße. Sie verändert uns alle – wenn wir uns darauf einlassen.

Vielleicht sollten wir nicht nur über Barrierefreiheit nachdenken, sondern auch über Herzensoffenheit. Der Sehbehindertentag erinnert uns daran, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. Wie viel Reichtum im Anderssein steckt. Und wie sehr Gott jeden Menschen meint – ob mit oder ohne Sehfähigkeit.

Jesus heilt einen Blinden, Imagen 3, prompted by ChatGPT
Jesus heilt einen Blinden, Imagen 3, prompted by ChatGPT

Ein letzter Gedanke: Jesus hat einmal einen Blinden geheilt – aber nicht sofort. Er spuckte ihm in die Augen und legte die Hände auf ihn. Und dann fragte er: „Siehst du etwas?“ Der Mann antwortete: „Ich sehe die Menschen umhergehen wie Bäume.“ Jesus legte noch einmal die Hände auf ihn. Dann sah er klar.

„Er blickte auf und sprach: Ich sehe die Menschen umhergehen wie Bäume, die umherwandeln.“
Markus 8,24

Manchmal braucht es eben Zeit. Manchmal auch einen zweiten Anlauf. Gott hat Geduld mit uns. Vielleicht können wir auch einander mit mehr Geduld begegnen – und mit einem offenen Blick.


Gott, du kennst unsere Augen, unser Herz, unsere Unsicherheiten.

Schenke uns die Klarheit, zu sehen, was wichtig ist. Hilf uns, die Menschen zu achten, die anders sehen – und vielleicht tiefer sehen.

Öffne unsere Herzen für ihre Geschichten, ihre Wege, ihre Stärke. Und öffne unsere Augen für das, was du uns heute zeigen willst.

Amen!


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