Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser!
Heute geht es um etwas Schweres – und zugleich etwas Hoffnungsvolles. Es geht um Versöhnung. Um Vergebung. Um die Kraft, Altes loszulassen, ohne es zu vergessen. Und das alles nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen. Denn was gestern im Persönlichen schwerfällt, war und ist im Politischen manchmal fast unmöglich. Und trotzdem geschehen Wunder.
In Berlin wurde vor wenigen Tagen – am 16. Juni 2025 – ein provisorischer Gedenkstein errichtet. Ein schlichter Findling. Für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Zwischen Kanzleramt und Reichstag steht er, beschriftet in zwei Sprachen: „Gedenke, damit Versöhnung wächst.“ Dieser Satz klingt biblischer, als man zunächst denkt. Denn es ist ein geistliches Prinzip: Erinnern ist nicht das Gegenteil von Vergeben. Es ist sein Bruder.
Jesus sagt in einer Szene, die uns tief berührt:
„Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Matthäus 5,9
Frieden stiften bedeutet nicht nur, sich nicht zu streiten. Es bedeutet auch, auf Menschen zuzugehen, die verletzt haben – oder die verletzt wurden. Es bedeutet, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, mit Schuld, mit Scham, mit Scherben. Und dann, irgendwann, zu sagen: Es reicht. Nicht im Sinne von „wir reden nicht mehr drüber“, sondern im Sinne von „wir lassen uns nicht mehr davon beherrschen“.

In den 1960er-Jahren schrieb eine Gruppe polnischer Bischöfe an ihre deutschen Kollegen: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Es war ein mutiger Schritt – und für viele Deutsche ein Schlag ins Herz. Weil sie sich gefragt haben: Dürfen wir das überhaupt annehmen? Haben wir genug getan, um diese Bitte zu verdienen? Diese Unsicherheit ist auch heute noch spürbar. Und sie ist heilsam.
Denn Vergebung ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist ein Geschenk. Und wie bei jedem Geschenk muss es zwei Seiten geben: Eine, die es anbietet – und eine, die es annimmt. Paulus schreibt:
„Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“
Römer 12,18
Dieser Satz ist wichtig, denn er befreit. Er nimmt uns nicht aus der Pflicht, aber auch nicht in die Geiselhaft des Gelingens. Wir können nicht alles machen. Aber wir können unseren Teil tun. Und der sieht konkret aus: Wir erinnern uns. Wir stellen uns unserer Geschichte. Wir gehen Schritte aufeinander zu. Wie es Deutschland und Polen in den letzten Jahrzehnten getan haben – und wie es dieser schlichte Findling aus Granit jetzt noch einmal sichtbar macht.
Ich habe vor einiger Zeit eine Geschichte gelesen, die mich nie wieder losgelassen hat. In einem kleinen Ort in Polen stand bis vor Kurzem ein zerstörtes deutsches Kriegerdenkmal aus der Vorkriegszeit. Statt es zu beseitigen, hat der Bürgermeister entschieden, es mit einer neuen Tafel zu versehen. Auf dieser Tafel steht: „Zur Erinnerung an das Leid aller Mütter.“ Kein nationalistisches Pathos, keine Schuldzuweisung – nur der Schmerz. Und die Hoffnung, dass dieser Schmerz verbinden kann.
Was bedeutet das alles für unser eigenes Leben? Vielleicht haben wir niemanden vertrieben, keine Stadt zerstört, kein Verbrechen begangen. Aber wir kennen die kleinen Kriege des Alltags. Familienfehden, verletzende Worte, alte Vorwürfe, die wie Granitblöcke zwischen Menschen stehen. Auch dort hilft kein „Schwamm drüber“. Aber vielleicht ein neuer Anfang. Ein Satz wie: „Ich bin bereit, dir zuzuhören.“ Oder: „Ich will verstehen, was dich verletzt hat.“
Jesus hat einmal gesagt:
„Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.“
Matthäus 6,14
Vergeben heilt. Nicht nur den anderen – auch uns selbst. Es nimmt uns die Ketten der Vergangenheit ab und macht uns frei für die Zukunft. Es bedeutet nicht, dass alles gut wird. Aber es bedeutet, dass wir nicht länger Gefangene unserer Verletzungen bleiben müssen.

Vielleicht ist heute ein guter Tag, um einen inneren Stein ins Rollen zu bringen. Einen, den wir zu lange mit uns herumgetragen haben. Vielleicht ist es ein Anruf, ein Brief, ein stilles Gebet. Vielleicht ist es auch nur ein Satz in Gedanken: „Ich will nicht mehr hassen.“
Wenn ein Volk wie Polen das sagen kann – nach all dem, was es erleiden musste – dann können wir das auch. Und wenn ein Stein in Berlin das sichtbar machen kann, dann darf dieser Stein auch in unseren Herzen liegen. Nicht als Last, sondern als Grundstein für Frieden.
Herr, wir bitten dich: Lehre uns, ehrlich zu erinnern – ohne Bitterkeit.
Gib uns den Mut zur Versöhnung – auch da, wo wir verletzt wurden.
Stärke uns, dass wir Frieden suchen – und ihn leben.
Und heile unsere Herzen, wo wir selbst vergeben müssen.
Amen!